Viele Afrikaner beteiligten sich an den weltweiten Protesten gegen Rassismus. Warum setzen sie sich nicht gleichermaßen gegen Tribalismus in ihren eigenen Herkunftsländern ein?
Liebe Leserin, lieber Leser,
seit einigen Monaten begleiten uns Proteste gegen Rassismus und Diskriminierung. Unter dem Hashtag #BlackLivesMatter (BLM) demonstrieren Menschen aller Hautfarben für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung schwarzer Menschen und People of Colour. Im Unterschied zu bisherigen Protestwellen sind es meistens junge Menschen, darunter auch sehr viele Weiße, die eine wirkliche Veränderung herbeiführen möchten. Es scheint langsam angekommen zu sein, dass ein demokratisches System nachhaltig nur von der Mehrheit der Bevölkerung verändert werden kann.
Auf einmal sind weiße Europäer und weiße Amerikaner bereit, über die Auswirkungen von Sklaverei und Kolonialismus zu sprechen. Natürlich sind die Ausmaße der Ereignisse in den USA durch deren Geschichte ganz anders sind als in Europa. Nichtsdestotrotz haben auch die Europäer mit ihrer kolonialen Geschichte Rassismus quasi salonfähig gemacht und und unreflektiert „gepflegt“.
In meinem Editorial aus Africa Positive Nummer 77 hatte ich über das sogenannte weiße Privileg und den Kolonialismus geschrieben, die die Ideologie des Rassismus in den europäischen Gesellschaften im Wortsinne zementiert haben. Andererseits waren es die Kolonialherren, die in Afrika ein perfides System schufen: den „Tribalismus“. Zur Ausbeutung der afrikanischen Länder praktizierten die Europäer das Prinzip Teile und Herrsche und perfektionierten so ihre eigene Macht. Die ethnische Vielfalt Afrikas war ein gefundenes Fressen für sie. Diejenigen Ethnien, welche die Gunst der Europäer besaßen, profitierten von diesem System – auf der anderen Seite wurde Hass, Neid und Misstrauen gesät, die die Gesellschaften bis heute spalten. Anstatt sich gegen die Europäer zu verbünden, bekämpften sich die Afrikaner untereinander.
In vielen Ländern Afrikas existiert das Phänomen des Tribalismus. Diskriminierung erfolgt dort nicht wegen der Hautfarbe, sondern wegen der ethnischen Herkunft. Tribalismus hat sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgebreitet und beherrscht häufig die politische Szene. Am Beispiel Kameruns, des „Afrika im Kleinen“, wie es wegen seiner Vielfalt oft genannt wird, kann man sehen, wie entwicklungshemmend Tribalismus ist. Kamerun hat über 250 ethnische Gruppen. Das Land nutzt Französisch und Englisch als Amtssprachen. Die seit 38 Jahren amtierende Regierung Paul Biyas hat den Tribalismus in Politik, Wirtschaft und Justiz extrem verschärft. Viele der besten Posten werden an Menschen seiner Ethnie verteilt. Kompetenz spielt kaum eine Rolle, Hauptsache, die Macht bleibt unter seinesgleichen. Gut funktionierende staatliche Unternehmen wurden dadurch ruiniert, die Entwicklung des Landes stagniert. Viele Richter und Staatsanwälte kommen aus der Ethnie des Präsidenten. Von einem Rechtsstaat kann keine Rede sein. Kamerun ist Weltmeister in Sachen Korruption. Viele gut ausgebildete Kameruner mit tollen Ideen und genügend Engagement bleiben der Heimat fern, weil die regierende Ethnie kaum Projekte anderer Kameruner unterstützt. Inkompetente, korrupte Menschen gibt es bis in die staatlichen Krankenhäusern. Kein Wunder also, dass die regierenden Eliten sich lieber im Ausland behandeln lassen.
Tribalismus ist eines der großen Hindernisse der Entwicklung in vielen Ländern Afrikas. Es ist der Dünger, durch den Korruption sehr gut gedeiht. Tribalismus bestärkt und fördert die soziale Ungerechtigkeit und behindert den gerechten Zugang zu Ressourcen.
Die Afrikaner sollten also zuerst bei sich zuhause auf die Straße gehen und dort gegen Tribalismus und für soziale Gerechtigkeit kämpfen. In einigen Ländern gibt es von Tribalismus befeuerte Bürgerkriege, doch die Mehrheit schaut tatenlos zu. Die Afrikanische Union hat sogar ein Statement gegen den Rassismus gegen Schwarze in den USA herausgegeben – gleichzeitig lassen dieselben politisch Verantwortlichen zu, dass auf dem afrikanischen Kontinent schwarze Afrikaner wegen Machthungers und des Raubes der Ressourcen von schwarzen Politikern dahingemetzelt werden. Auch wenn schwarze Jugendliche in der Sahara und auf dem Mittelmeer sterben, tun afrikanische Politiker und die AU – nichts…
Wenn Black Lives Matter (BLM) tatsächlich wichtig ist, dann sollten viele Afrikaner erst einmal vor der eigenen Haustür kehren und BLM praktizieren, unabhängig von der Ethnie. Auch in Afrika zählt das Leben von Menschen schwarzer Hautfarbe. Nach mehr als 60 Jahren Kolonialzeit wird die wahre Dekolonisierung in Afrika erst beginnen, wenn die Afrikaner den Tribalismus und dessen Auswirkungen endlich auf die Tagesordnung bringen und tatsächlich nach Lösungen suchen. Die Amerikaner und Europäer müssen selbstverständlich ihre Rassismus-Probleme lösen, das ist offensichtlich. Doch die Afrikaner müssen sich dringend mit ihrem „Tribalismus-Problem“ auseinandersetzen. Darauf muss sich ihre Aufmerksamkeit richten.
Liebe Leser, diese Themen werden uns in den kommenden Monaten und vielleicht Jahren weiter beschäftigen. Ich habe Kamerun als Beispiel angeführt, weil dieses Land das widerspiegelt, was in vielen Nationen Afrikas falsch läuft. Ausgerechnet Kamerun ist eines der Länder, die das volle Vertrauen von Bundesminister Gerd Müller vom BMZ genießen. Ein Land, das seit Jahren den Korruptionsindex toppt und seit fast vier Jahren Massaker an der eigenen Bevölkerung verübt. Trotzdem fließt stetig unser Steuergeld im Namen der Entwicklungszusammenarbeit dorthin, der Menschenrechtssituation zum Hohn. Zur Bekämpfung von Rassismus muss der Dekolonisierungsprozess auch in der europäischen Politik stattfinden. Ein Stopp der Waffenlieferungen und ein Ende von Stellvertreter-Kriegen sind überfällig. Wie heißt es so schön? „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen …“
Genießen Sie die Lektüre!
Veye Tatah