Liebe Leserin, lieber Leser,
im Mai dieses Jahres verbreitete sich die gute Nachricht, dass die Bundesregierung den Völkermord an den Herero und Nama in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) endlich als solchen anerkennt. Die Freude an dieser Nachricht währte allerdings nur kurz, nachdem Details zum Deal bekannt wurde. Über einen Zeitraum von 30 Jahren sollen nun insgesamt 1,1 Milliarden Euro an Hilfsgeldern nach Namibia fließen.
Die Frage, die ich mir danach stellte, war: Wer hat diese Summe festgelegt? Was ist der Wert eines Menschen? Oder anders gefragt, was ist der Wert eines schwarzen Genozid-Opfers? So etwas kann man in Cent und Euro bemessen? Wer ist derart vermessen?
Laut Berichten verschiedener Medien haben die Vertreter der Herero und Nama dieses Abkommen abgelehnt, da sie in die Gespräche überhaupt nicht eingebunden waren. Die Bundesregierung hat also die ganze Verhandlung mit der namibischen Regierung ohne die eigentlich Betroffenen durchgeführt. Waren denn wenigstens irgendwelche zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Namibia dabei? Oder hätten die bei der Mauschelei nur gestört? Man hört doch oft von Seiten deutscher Politiker, dass, wenn es um die Entwicklungsprojekte in afrikanischen Ländern geht, man unbedingt die dortige Zivilgesellschaft mit einbinden muss, weil man den dortigen Politikern (natürlich nur denen aus dem Land, aus dem die Genozidopfer stammen!) nicht trauen kann. Aber kaum hatte sie sich mit diesem Genozid-Deal einverstanden erklärt, war die namibische Regierung mitsamt deren Politiker auf einmal derart glaubwürdig, dass die Forderung nach zivilgesellschaftlichen Organisationen überflüssig war. Wenn es um afrikanische Länder geht, ändern sich die Meinungen der Europäer und speziell Deutschlands solange, bis das gewünschte Ergebnis absehbar ist.
In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit vom 2.6.2021 lehnte Esther Muinjangue, Mitbegründerin und Vorsitzende des Ovaherero Genocide Committees und namibische Politikerin, das Versöhnungsabkommen mit folgender Begründung ab: „Es geht uns um einen Prozess der Aufarbeitung, der die Communities und ihre Bedürfnisse und Wünsche in den Vordergrund stellt. Wir, die Nachfahren der Ovaherero und auch der Nama, wurden von Anfang an ausgeschlossen. Dabei wissen wir, dass Deutschland solche Völkermords-Verhandlungen durchaus führen kann: 1952 z. B. hat die deutsche Regierung mit dem Staat Israel und der Jewish Claims Conference, einem Zusammenschluss jüdischer Organisationen, über Reparationen verhandelt. Es wurden Zahlungen im Wert von 3,5 Milliarden Deutsche Mark vereinbart. Warum ist es für die deutsche Regierung so schwierig, sich auch mit Vertreter*innen der Ovaherero und Nama und der namibischen Regierung zusammenzusetzen?“
Die Punkte, die Esther Muinjangue ansprach, zeigen, dass der Umgang mit Verbrechen von Europäern an Schwarzen (Afrikanern) oft relativiert wird. Bis heute gibt es keine Anzeichen dafür, dass die ehemaligen Kolonialherren sich mit den Auswirkungen ihres mörderischen und ausbeuterischen Systems auf die Länder Afrika ernsthaft auseinandersetzen wollen. Ob die Europäer es möchten oder nicht, der Dekolonialisierungsprozess muss irgendwann einmal ernsthaft gestartet werden – die Zeit der Plattitüden und halbgaren Zur-Kenntnisnahmen ist endgültig vorüber! Die UN-Hochkommisarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hat vor Kurzem gefordert, dass Reparationen an Schwarzen überall gezahlt werden sollten. Zu Recht! Ein Grund, warum die Europäer sich vor diesem Thema scheuen, ist, dass die meisten afrikanischen Regierungen heute durch ein gefährliches Schuld- und Kreditsystem sehr abhängig von finanziellen Leistungen und Krediten aus dem Norden sind – also von Seiten der ehemaligen Kolonialmächte. Deswegen sind sie nicht in der Lage, nötige Reparationen und Wiedergutmachungen für ihre Länder und Bevölkerungen zu fordern. Doch dieser desaströse Zustand wird nicht ewig andauern. Die nachgewachsene junge und ungeduldige Generation wird mit diesen Themen anders umgehen müssen, damit Gerechtigkeit und die Menschenwürde wieder hergestellt werden.
Der Monat Mai schien ein Ankündigungsmonat zu sein. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat bei seinem Besuch in Kigali die Ruander gebeten, die Rolle seines Landes beim Völkermord in Ruanda 1994 zu verzeihen. Macron, der die Völkermord-Gedenkstätte in Kigali besuchte, gab zu, dass Frankreich ein völkermörderisches Regime unterstützt und Warnungen vor den drohenden Massakern ignoriert hatte. Wir fragen uns: Was kommt nach dieser Entschuldigung? Übrigens unterstützt Frankreich nach wie vor zum eigenen Nutzen mörderische Regierungen in zahlreichen afrikanischen Länder (Zauberwort „Uran“…).
Die afrikanischen Länder müssen endlich die Themen Aufarbeitung und Dekolonialisierung intern angehen. Die andauernden politischen und ethnischen Krisen, die die Entwicklungen in den Ländern natürlich behindern, müssen ein Ende haben! Lösungen könnten neue Schulsysteme mit neuen Curricula sowie die Einführung eines Prozesses zu Dialog und Versöhnung zwischen den verschiedenen Ethnien bilden. Warum greifen die meisten Regierungen zu den Waffen, anstatt mit ihren Bevölkerungen zu reden, um Probleme zu lösen? Dies ist scheinbar ebenfalls ein Kolonialerbe. Ohne langfristigen Frieden wird es schwer sein, eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu realisieren.
Liebe Leser, dieses Heft mit Länderschwerpunkt Namibia bietet Ihnen wie immer Hintergrundberichte rund um den bunten Kontinent. Genießen Sie die Lektüre!
Veye Tatah